Das erste Beispiel für ein funktionierendes mechanisches Getriebe im Tierreich

Zahnräder verbinden die Hinterbeine von Käferzikaden der Gattung Issus. (Credit: Burrows / Sutton)
Zahnräder verbinden die Hinterbeine von Käferzikaden der Gattung Issus. (Credit: Burrows / Sutton)

In einem gewöhnlichen Insekt wurde ein natürliches Beispiel für einen funktionierenden Getriebemechanismus entdeckt. Bislang wurden Zahnräder ausschließlich als künstlich geschaffene Objekte betrachtet, aber diese Entdeckung zeigt, dass die Evolution ineinandergreifende Zahnräder entwickelte, lange bevor wir es taten. Junge Käferzikaden der Gattung Issus sind Insekten, die von Pflanze zu Pflanze hüpfen und in Gärten ganz Europas vorkommen. Sie besitzen an den Hinterbeinen Gelenke mit gekrümmten, zahnradähnlichen Stegen, die ineinandergreifen und sich wie ein mechanisches Getriebe drehen, um die Beine des Tieres zu synchronisieren, wenn es zu einem Sprung ansetzt. Die Entdeckung demonstriert, dass Getriebemechanismen, die bisher als ausschließlich von Menschenhand geschaffen angesehen wurden, einen evolutionären Vorgänger haben. Wissenschaftler sagen, dass dies die „erste Beobachtung eines mechanischen Getriebes in einer biologischen Struktur“ sei.

Durch die Kombination aus einer anatomischen Analyse und Hochgeschwindigkeits-Videoaufnahmen von normalen Bewegungen der Tiere waren Forscher der University of Cambridge in der Lage, diese funktionierenden, natürlichen Zahnräder erstmals zu enthüllen. Die Ergebnisse erscheinen in der neuesten Ausgabe des Journals Science. Die Zahnräder in den Hinterbeinen von Issus zeigen eine bemerkenswerte technische Ähnlichkeit zu jenen, die an jedem Fahrrad und in jeder Auto-Gangschaltung vorhanden sind. Jeder Zahn besitzt eine abgerundete Ecke an dem Punkt, wo er sich mit den Stegen verbindet. Das ist ein Merkmal, das sie mit künstlichen Zahnrädern gemeinsam haben – im Grunde genommen ein Stoßdämpfungsmechanismus, der die Zähne davor bewahrt abzubrechen.

Die Getriebezähne an den gegenüberliegenden Hinterbeinen verhaken sich wie jene im Getriebe eines Autos und gewährleisten eine fast vollständige Synchronizität bei der Bewegung der Beine. Die Beine bewegen sich immer mit einem Zeitunterschied von maximal 30 Mikrosekunden, wobei eine Mikrosekunde einer Millionstel Sekunde entspricht. Das ist entscheidend für die kräftigen Sprünge, welche die dominierende Fortbewegungsart dieses Insekts darstellen, denn sogar die geringsten Unterschiede bei der Geschwindigkeitssynchronisation ihrer Beine zum Zeitpunkt des Sprungs würde in einer „kursabweichenden Rotation“ resultieren. Issus würde hoffnungslos außer Kontrolle rotieren.

„Diese präzise Synchronisation wäre mit einem Nervensystem unmöglich zu erreichen, weil die Nervenimpulse viel zu lange für die erforderliche enge Koordination brauchen würden“, sagte der leitende Autor Professor Malcolm Burrows vom Department of Zoology der University of Cambridge. „Durch die Entwicklung mechanischer Zahnräder kann Issus einfach Nervenimpulse an seine Muskeln schicken, um ungefähr dieselbe Kraft zu erzeugen. Wenn ein Bein dann den Sprung beginnt, werden sich die Zahnräder miteinander verbinden und eine absolute Synchronizität schaffen.“

„Bei Issus wird das Skelett verwendet, um ein komplexes Problem zu lösen, welches das Gehirn und Nervensystem nicht lösen können“, sagte Burrows. „Das unterstreicht die Bedeutung, die Eigenschaften des Skeletts bei der Erzeugung von Bewegungen einzubeziehen.“

„Wir betrachten Zahnräder normalerweise als etwas, das wir in von Menschen konstruierten Maschinen sehen, aber wir haben festgestellt, dass dies nur so ist, weil wir nicht genau genug hingeschaut haben“, ergänzte Co-Autor Gregory Sutton, der jetzt an der University of Bristol arbeitet. „Diese Zahnräder wurden nicht konstruiert – sie haben sich entwickelt und repräsentieren eine Hochgeschwindigkeits- und Präzisionsmaschine, die sich für die Synchronisation in der Tierwelt entwickelt hat.“

Interessanterweise kommen die mechanischen Zahnräder nur in den jungen Stadien – den Nymphen – des Insekts vor und gehen bei der letzten Verwandlung in das erwachsene Tier verloren. Im Rahmen dieser Verwandlungen – Häutungen genannt – stoßen Tiere an Schlüsselpunkten ihrer Entwicklung ihre starre Haut ab, um zu wachsen. Es ist noch nicht bekannt, warum Issus die Zähne in seinen Hinterbeinen beim Erreichen des Erwachsenenstadiums verliert. Die Forscher betonen, dass die Effektivität des gesamten Mechanismus verringert wird, wenn ein Zahn des Zahnrades bricht – das ist ein Problem bei jedem Getriebesystem. Während gebrochene Zahnradräder in Nymphen mit der nächsten Häutung repariert werden könnten, ist jede Beschädigung im Erwachsenenstadium dauerhaft.

Nymphenform einer Käferzikade der Gattung Issus. (Credit: Burrows / Sutton)
Nymphenform einer Käferzikade der Gattung Issus. (Credit: Burrows / Sutton)

Es könnte auch an der größeren Länge der erwachsenen Tiere und damit letztendlich an ihren „Trochantera“ liegen – dem Insekten-Äquivalent des Oberschenkelknochens. Der größere Trochantera erlaubt ihnen möglicherweise, genug Kraft zu erzeugen, um die enormen Sprünge von Blatt zu Blatt ohne die Koordination mittels ineinandergreifender Zahnräder zu schaffen. Jeder Zahnradkranz in den jungen Issus war um die 400 Mikrometer lang und hatte zwischen zehn und zwölf Zähne, wobei beide Seiten des Zahnrades in jedem Bein dieselbe Anzahl aufwiesen – ein Übersetzungsverhältnis von 1:1.

Im Gegensatz zu künstlichen Zahnrädern ist jeder Zahn asymmetrisch und in Richtung des Punktes gekrümmt, wo die Zahnräder ineinandergreifen. Künstliche Getriebe benötigen eine symmetrische Form, um in beide Rotationsrichtungen zu funktionieren, wohingegen die Zahnräder von Issus nur in eine Richtung Kraft übertragen, um das Tier nach vorn zu katapultieren. Obwohl es Beispiele für schmückende Zahnräder im Tierreich gibt – beispielsweise auf dem Panzer der „Cog-wheel Turtle“ („Zahnrad“-Schildkröte) oder auf dem Rücken des „Wheel Bug“ („Rad“-Käfer) – bleiben Zahnräder mit einer funktionalen Rolle entweder schwer beobachtbar oder wurden von der Evolution als unpraktikabel verworfen.

Issus sei das erste Beispiel für einen natürlichen Zahnradmechanismus mit einer beobachtbaren Funktion, sagten die Wissenschaftler.

Quelle: http://www.cam.ac.uk/research/news/functioning-mechanical-gears-seen-in-nature-for-the-first-time

(THK)

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