Ein Astronomenteam unter Leitung von Péter Németh von der Friedrich-Alexander-Universität hat ein Doppelsternsystem entdeckt, das sich fast mit der Fluchtgeschwindigkeit unserer Galaxie bewegt. Es gibt etwa zwei Dutzend sogenannter Hyperschnellläufer, die bekanntermaßen aus der Galaxie herausfliegen. Während alle davon Einzelsterne sind, handelt es sich bei PB3877 um das erste weite Doppelsternsystem, das sich mit einer derart hohen Geschwindigkeit bewegt. Die Ergebnisse der neuen Studie stellen das gemeinhin akzeptierte Szenario in Frage, laut dem Hyperschnellläufer durch das supermassive Schwarze Loch im galaktischen Zentrum beschleunigt werden. Die Studie wurde am 11. April 2016 in den Astrophysical Journal Letters veröffentlicht.
Das Team zeigte in Zusammenarbeit mit Forschern des California Institute of Technology, dass das Doppelsternsystem nicht aus dem galaktischen Zentrum stammen kann, und dass kein anderer Mechanismus bekannt ist, der in der Lage wäre, ein weites Doppelsternsystem auf eine so hohe Geschwindigkeit zu beschleunigen, ohne es zu zerstören. Daher vermuten die Wissenschaftler, dass es es viel Dunkle Materie geben müsse, um den Stern an die Milchstraßen-Galaxie gebunden zu halten. Oder der Doppelstern PB3877 könnte ein Eindringling sein, der in einer anderen Galaxie entstand und die Milchstraßen-Galaxie wieder verlässt oder auch nicht mehr verlässt.
PB3877 wurde erstmals als hyperschneller, heißer, kompakter Stern angesehen, als er 2011 in Daten des Sloan Digital Sky Survey (SDSS) entdeckt wurde. Neue spektroskopische Beobachtungen wurden mit den 10-Meter Keck-II-Teleskopen des W. M. Keck Observatory auf dem Mauna Kea (Hawaii) und dem 8,2-Meter Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile durchgeführt. Die Astronomen Thomas Kupfer und Felix Fürst vom California Institute of Technology beobachteten PB3877 mit dem ESI-Instrument, das am Keck-II-Teleskop montiert ist.
„Als wir die neuen Daten anschauten, fanden wir zu unserer großen Überraschung schwache Absorptionslinien, die nicht von dem heißen Stern stammen konnten“, sagte Kupfer. „Der kühle Begleitstern weist eine hohe Radialgeschwindigkeit auf, so wie der heiße Hauptstern. Deshalb bilden die beiden Sterne ein Doppelsternsystem, das den ersten Kandidaten eines Hyperschnellläufer-Doppelsternsystems darstellt.“
Die Oberfläche des heißen, kompakten Sterns ist mehr als fünfmal heißer als die Sonnenoberfläche, während die Oberfläche des Begleitsterns etwa 1.000 Grad Celsius kühler als die Sonnenoberfläche ist. Das System liegt etwa 18.000 Lichtjahre entfernt. Die Masse des heißen, kompakten Sterns beträgt nur die halbe Sonnenmasse, und der Begleitstern besitzt die 0,7-fache Sonnenmasse.
„Wir untersuchen Hyperschnellläufer seit 2005 – dem Jahr, in dem die ersten drei Exemplare entdeckt wurden“, sagte das Teammitglied Ulrich Heber. „In der Zwischenzeit hat man rund zwei Dutzend von ihnen gefunden, aber das sind alles Einzelsterne. Keiner hat einen Begleiter, der direkt in seinem Spektrum nachweisbar ist.“
Das Zentrum unserer Galaxie beherbergt ein supermassives Schwarzes Loch, das Sterne beschleunigen und aus der Galaxie herausschleudern kann, indem es ein ursprüngliches Doppelsternsystem zerstört. Deswegen nimmt man an, dass die meisten Hyperschnellläufer aus dem galaktischen Zentrum stammen.
„Anhand unserer Berechnungen können wir das galaktische Zentrum als Ursprungsort ausschließen, weil die Bahn des Systems ihm niemals nahe kam“, sagte das Teammitglied Eva Ziegerer, eine Spezialistin für stellare Kinematik, die die astrometrischen Daten sammelte und die Umlaufbahn des Doppelsternsystems rekonstruierte. „Andere Katapultmechanismen wie beispielsweise stellare Kollisionen und eine Supernova-Explosion wurden angeführt, aber sie alle würden zur Zerstörung eines weiten Doppelsternsystems führen.“
„PB3877 könnte ein Eindringling aus einer anderen Galaxie sein“, sagte Németh. „In diesem Fall würde die lange, stetige Beschleunigung die Integrität des Systems nicht gefährden. Die Randgebiete unserer Galaxie enthalten verschiedene stellare Ströme, die als die Überreste von Zwerggalaxien angesehen werden, welche durch die starken Gezeitenkräfte der Milchstraßen-Galaxie auseinandergerissen wurden.“
Unglücklicherweise erlauben die verfügbaren Daten nicht, einen Zusammenhang zu einem der bekannten Ströme herzustellen. Aus diesem Grund bleibt der Ursprung des Doppelsternsystems weiterhin unklar, ebenso seine Zukunft. Ob das System an die Galaxie gebunden bleibt oder nicht, hängt von der Menge der Dunklen Materie in der Galaxie ab. Die bloße Existenz dieses Doppelsternsystems übt daher Druck auf unsere Modelle und auf unser aktuelles Wissen über die Dunkle Materie in der Milchstraßen-Galaxie aus.
„Wir nutzten verschiedene Massenmodelle, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, dass der Stern letztendlich an die Galaxie gebunden bleibt. Nur bei dem massereichsten Galaxiemodell war dies der Fall. Das macht PB3877 zu einem ausgezeichneten Ziel, um Modelle des Dunkle-Materie-Halos zu untersuchen“, sagte Andreas Irrgang, ein Wissenschaftler am Dr. Karl Rameis Observatory.
Die Forschungsarbeit wird mit hochaufgelösten Spektroskopiedaten fortgeführt, um die Orbitalparameter von PB3877 zu bestätigen. Außerdem wird eine fotometrische Nachfolgebeobachtung nach Veränderlichkeiten suchen. „Das Auffinden weiterer Sterne oder Doppelsternsysteme auf vergleichbaren Umlaufbahnen würde auf einen externen Ursprung hindeuten. Daher wird unsere Suche nach ähnlichen Objekten weitergehen“, sagte Németh.
Das W. M. Keck Observatory betreibt die größten und wissenschaftlich produktivsten Teleskope auf der Erde. Die beiden 10-Meter-Teleskope arbeiten im sichtbaren und infraroten Bereich und befinden sich nahe des Gipfels auf dem Mauna Kea (Hawaii). Sie enthalten eine Reihe moderner Instrumente, darunter Kameras, Multi-Objekt-Spektrografen, hochauflösende Spektrografen, Integralfeldspektrografen und das weltbeste System adaptiver Optik per künstlichem Leitstern.
ESI (Echellete Spectrograph and Imager) ist ein Spektrograf, der mit mittlerer Auflösung im sichtbaren Licht arbeitet und mit jeder Belichtung Spektren von 0,39 bis 1,1 Mikrometern aufzeichnet. Gebaut am UCO/Lick Observatory von einem Team unter Leitung von Professor Joe Miller, besitzt ESI auch einen Modus mit geringer Auflösung und kann ein Blickfeld von 2*8 Bogenminuten abbilden. Ein Upgrade ergänzte eine Integralfeldeinheit, die Spektren innerhalb eines kleinen 5,7* 4,0 Bogensekunden großen Bereichs aufnehmen kann. Astronomen haben viele Einsatzmöglichkeiten für ESI gefunden – von der Beobachtung der kosmologischen Auswirkungen schwacher Gravitationslinseneffekte bis hin zur Suche nach den metallärmsten Sternen in unserer Galaxie.
Das Keck Observatory ist eine private Non-Profit-Organisation und wissenschaftlicher Partner des California Institute of Technology, der University of California und der NASA.
(THK)
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