Im Jahr 1610 entdeckte Galileo Galilei mit einem neu entworfenen Teleskop die vier größten Monde Jupiters. Fast 400 Jahre später nutzte das Weltraumteleskop Hubble seine leistungsfähige Optik, um tief in den Weltraum zu blicken und Wissenschaftlern zu ermöglichen, das Alter des Universums zu bestimmen. Es genügt wohl zu sagen, dass ein besserer Blick auf die Dinge bedeutende wissenschaftliche Fortschritte hervorbringt.
In einer Abhandlung, die am 18. Juli 2018 im Astrophysical Journal veröffentlicht wurde, demonstriert ein Team unter Leitung von Craig deForest (Sonnenphysiker am Southwest Research Institute in Boulder (Colorado)), dass dieser historische Trend noch immer gilt. Mit verbesserten Algorithmen und Datenbereinigungsmethoden entdeckte das Team anhand Bildanalysen der STEREO-Raumsonden nie zuvor beobachtete, feinkörnige Strukturen in der äußeren Korona, der Millionen Grad heißen Atmosphäre der Sonne. Die neuen Ergebnisse bieten auch Ausblicke darauf, was mit der Parker Solar Probe der NASA beobachtet werden könnte, die nach ihrem Start im Sommer 2018 direkt durch diese Region fliegen wird.
Die äußere Korona ist die Quelle des Sonnenwinds, dem Strom geladener Teilchen, der von der Sonne in alle Richtungen nach außen wegströmt. In der Nähe der Erde gemessen, sind die innerhalb des Sonnenwinds eingebetteten Magnetfelder verflochten und komplex, aber die Ursache dieser Komplexität bleibt unklar.
„Im tiefen Weltraum ist der Sonnenwind turbulent und böig“, sagte DeForest. „Aber wie wird er das? Verlässt er die Sonne ruhig und wird turbulent, wenn er das Sonnensystem durchquert, oder verraten uns die Böen etwas über die Sonne selbst?“
Die Beantwortung dieser Frage erfordert extrem detailreiche Beobachtungen der äußeren Korona, der Quelle des Sonnenwindes. Wenn die Sonne selbst die Turbulenzen im Sonnenwind verursacht, dann sollten wir imstande sein, komplexe Strukturen direkt am Anfang seiner Reise zu sehen. Aber die vorhandenen Daten zeigten keine derart feinkörnigen Strukturen – zumindest bis jetzt nicht.
„Frühere Bilder der Korona zeigten die Region als glatte, laminare Struktur“, sagte Nicki Viall, Sonnenphysikerin am Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt (Maryland) und Co-Autorin der Studie. „Es stellte sich heraus, dass die scheinbare Glattheit nur an den Begrenzungen unserer Bildauflösung lag.“
Die Studie
Um die Korona zu verstehen, begannen DeForest und seine Kollegen mit Aufnahmen von Koronografen. Das Sind Bilder der Sonnenatmosphäre, die durch ein spezielles Teleskop aufgenommen werden, das das Licht der viel helleren Oberfläche ausblendet.
Diese Bilder wurden mit dem COR2-Koronografen an Bord der NASA-Raumsonde STEREO-A (Solar and Terrestrial Relations Observatory) aufgenommen, das die Sonne zwischen der Erde und der Venus umkreist. Im April 2014 würde STEREO-A bald hinter der Sonne verschwinden, und die Wissenschaftler wollten einige interessante Daten bekommen, bevor die Kommunikation kurz unterbrochen wurde.
Daher führten sie eine spezielle, dreitägige Datensammlungskampagne durch, bei der das COR2-Instrument längere und häufigere Belichtungen der Korona machte, als es das normalerweise tut. Dank dieser Langzeitbelichtungen konnte mehr Licht aus schwachen Quellen den Detektor des Instruments treffen, wodurch es Details sehen konnte, die es sonst übersehen hätte.
Aber die Forscher wollten nicht nur Aufnahmen mit längeren Belichtungszeiten – sie wollten sie in höheren Auflösungen. Die Optionen waren begrenzt. Das Instrument befand sich bereits im Weltraum und im Gegensatz zu Galileo damals konnten sie nicht direkt an der Hardware arbeiten. Stattdessen nahmen sie einen Software-Ansatz und holten die qualitativ bestmöglichen Daten heraus, indem sie das Signal-Rausch-Verhältnis des COR2-Instruments verbesserten.
Video-Link: https://youtu.be/hknjlxWTGMo
Was ist das Signal-Rausch-Verhältnis?
Das Signal-Rausch-Verhältnis ist ein wichtiges Konzept in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Es misst, wie gut man die zu messende Sache (das Signal) von den unwichtigen Dingen (dem Rauschen) unterscheiden kann.
Ein Beispiel: Sagen wir, man ist mit einem guten Gehör gesegnet. Man bemerkt das leiseste Mausfiepen spät in der Nacht. Man kann dem Flüstern von Schulkindern in einigen Metern Entfernung lauschen. Das Gehör ist einwandfrei – wenn die Umgebung leise ist.
Aber es ist eine ganz andere Sache, wenn man in der ersten Reihe bei einem Rockkonzert steht. Die anderen Klänge in der Umgebung sind einfach zu laut. Egal wie gut man zuhört, das Mausqfiepen und das Flüstern (in dem Fall das Signal) können die Musik (das Rauschen) nicht übertönen. Das Problem ist nicht das Gehör, sondern das schlechte Signal-Rausch-Verhältnis.
Die Koronografen des COR2-Instruments sind wie unser Gehör. Das Instrument ist empfindlich genug, um die Korona detailliert abzubilden, aber in der Praxis werden seine Messungen durch das Rauschen der Weltraumumgebung und sogar durch die Verkabelung des Instruments selbst verschlechtert. Die Innovation von DeForest und seinen Kollegen bestand nun darin, dieses Rauschen zu identifizieren und herauszufiltern und dadurch das Signal-Rausch-Verhältnis zu verbessern und die äußere Korona in beispiellosen Details zu enthüllen.
Die Analyse
Der erste Schritt zur Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses wurde bereits unternommen: Aufnahmen mit längeren Belichtungszeiten. Bei längeren Belichtungszeiten gelangt mehr Licht in den Detektor und reduziert das Rauschlevel. Das Team schätzt die Rauschverminderung bei jedem Bild auf den Faktor 2,4 – und wenn sie über eine Zeitspanne von 20 Minuten kombiniert werden, sogar auf den Faktor 10.
Aber die verbliebenen Schritte mussten moderne Algorithmen übernehmen, die entwickelt und getestet wurden, um die tatsächliche Korona aus den verrauschten Messungen herauszufiltern.
Sie filterten das Licht von Hintergrundsternen heraus (das helle Punkte auf dem Bild erzeugt, welche nicht zur Korona gehören). Sie korrigierten geringe, wenige Millisekunden lange Unterschiede bei der Öffnungszeit des Kameraverschlusses. Sie entfernten die Grundhelligkeit aus allen Bildern und normalisierten sie, so dass hellere Regionen die schwächeren nicht überstrahlten.
Aber eines der anspruchsvollsten Hindernisse liegt in der Korona selbst: Bewegungsunschärfe aufgrund des Sonnenwindes. Um dieser Rauschquelle Herr zu werden, ließen DeForest und seine Kollegen einen speziellen Algorithmus laufen, der die Bilder in der Zeit mittelt.
Mitteln in der Zeit – mit einer Wendung
Wenn man schon einmal irgendwo zweimal hingucken musste, weiß man ein, zwei Dinge darüber. Man schaut nochmal hin, um den ersten Blick zu bestätigen. Es ist eine einfache Art, zwei „Messungen“ zu verschiedenen Zeitpunkten zu einer Messung zu kombinieren, bei der man sicherer sein kann.
Diese Grundidee wird in einen Algorithmus umgewandelt. Das Prinzip ist simpel: Man macht zwei (oder mehr) Bilder, überlagert sie und mittelt ihre Pixelwerte zusammen. Zufällige Unterschiede zwischen den Bildern werden sich letztendlich herausmitteln und nur das zurücklassen, was beide Bilder gemeinsam haben.
Aber was die Korona betrifft, gibt es ein Problem: Sie ist eine dynamische, sich ständig bewegende und verändernde Struktur. Sonnenmaterie bewegt sich immer von der Sonne weg, um zum Sonnenwind zu werden. Die obige Methode würde eine Bewegungsunschärfe verursachen – dieselbe Art Unschärfe, die man auf Bildern von bewegten Objekten sieht. Das ist ein Problem, wenn das Ziel darin besteht, feine Details zu erkennen.
Um die Bewegungsunschärfe rückgängig zu machen, nutzten die Forscher eine neue Methode: Während sie ihr Glättungsverfahren anwandten, schätzten sie die Geschwindigkeit des Sonnenwindes und verschoben die Bilder entsprechend mit ihr.
Um zu verdeutlichen, wie dieser Ansatz funktioniert, kann man sich vorstellen, wie man Schnappschüsse von einer Autobahn macht, während die Autos vorbeifahren. Würde man die Bilder einfach nur überlagern, wäre das Ergebnis ein großer, verschwommener Murks. In der Zeit zwischen den Schnappschüssen hätte sich zu viel verändert.
Aber wenn man die Geschwindigkeit des Verkehrs feststellen und die Bilder ihm folgend verschieben könnte, dann würden plötzlich die Einzelheiten bestimmter Autos sichtbar werden.
Für DeForest und seine Co-Autoren entsprachen die Autos den feinen Details der Korona, und der Autobahnverkehr war der Sonnenwind.
Natürlich gibt es in der Korona keine Geschwindigkeitsbegrenzungsschilder, die einem sagen, wie schnell sich die Dinge bewegen. Um herauszufinden, wie weit genau die Bilder vor der Normalisierung verschoben werden mussten, analysierten sie die Bilder Pixel für Pixel und korrelierten sie miteinander, um zu berechnen, wie ähnlich sie waren. Schließlich fanden sie die Stelle, an denen die überlagerten Teile der Bilder so ähnlich wie möglich waren. Die Verschiebung stimmte mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit des Sonnenwindes von etwa 219 Kilometern pro Sekunde überein. Sie verschoben jedes Bild um diesen entsprechenden Wert und mittelten sie zusammen.
„Wir mittelten nicht nur im Raum, nicht nur in der Zeit, sondern in einem bewegten Koordinatensystem“, sagte DeForest. „Das erlaubte uns, eine Bewegungsunschärfe zu erschaffen, die nicht nur durch die Geschwindigkeit des Sonnenwindes bestimmt wurde, sondern auch dadurch, wie schnell sich die Strukturen innerhalb des Windes veränderten.“
Jetzt hatten DeForest und seine Mitarbeiter hochqualitative Bilder der Korona – und eine Möglichkeit zu sagen, wie stark sie sich mit der Zeit veränderte.
Die Ergebnisse
Das überraschendste Ergebnis war keine besondere physikalische Struktur – es war die simple Präsenz einer physikalischen Struktur an sich.
Verglichen mit der dynamischen, turbulenten, inneren Korona hatten Wissenschaftler die äußere Korona als glatt und homogen angesehen. Aber diese Homogenität war nur ein Artefakt eines schlechten Signal-Rausch-Verhältnisses: „Als wir so viel Rauschen entfernten wie möglich, erkannten wir, dass die Korona strukturiert ist, bis hinunter zur optischen Auflösung des Instruments“, sagte DeForest.
Wie die einzelnen Grashalme, die man nur sieht, wenn man nah genug ist, wurde die komplexe, physikalische Struktur der Korona in beispiellosen Einzelheiten offenbart. Und aus diesen physikalischen Einzelheiten erhoben sich drei Schlüsselerkenntnisse.
Die Struktur koronaler Streamer
Koronale Streamer (auch bekannt als Helmet Streamer, weil sie dem spitzen Helm eines Ritters ähneln) sind helle Strukturen, die sich oberhalb von Sonnenregionen mit verstärkter magnetischer Aktivität entwickeln. Magnetische Feldlinien auf der Sonnenoberfläche werden durch den Sonnenwind zu spitz zulaufenden Formen gedehnt und können in koronalen Masseauswürfen ausbrechen. Das sind große Materieexplosionen, die Teile der Sonne in den umgebenden Weltraum schleudern.
Die Verarbeitung der STEREO-Beobachtungen von DeForest und seinen Co-Autoren offenbart, dass die Streamer selbst viel strukturierter sind als bislang angenommen.
„Wir stellten fest, dass es nicht so etwas wie einen einzigen Streamer gibt“, sagte DeForest. „Die Streamer selbst bestehen aus zahllosen feinen Fäden, die sich zusammenfinden, um eine hellere Struktur zu bilden.“
Die Alfvén-Zone
Wo hört die Korona auf und wo beginnt der Sonnenwind? Eine Definition verweist auf die Alfvén-Fläche, eine theoretische Grenze, wo der Sonnenwind schneller zu werden beginnt als Wellen durch ihn zurücklaufen können. In dieser Grenzregion können sich Störungen nicht mehr schnell genug rückwärts bewegen, um die Sonne zu erreichen, wenn sie an einem Punkt auftreten, der weiter entfernt in der bewegten Sonnenmaterie liegt.
„Materie, die die Alfvén-Fläche passiert, geht der Sonne für immer verloren“, sagte DeForest.
Physiker haben lange geglaubt, dass die Alfvén-Fläche genau das war: eine flächenähnliche Schicht, wo der Sonnenwind plötzlich eine kritische Geschwindigkeit erreicht. Aber das ist nicht das, was DeForest und seine Kollegen vorfanden.
„Wir schlussfolgern, dass es dort keine klare Alfvén-Fläche gibt“, sagte DeForest. „Es gibt dort eher eine breite ‚Niemandsland‘- oder Alfvén-Zone, wo der Sonnenwind sich langsam von der Sonne ablöst und weniger eine einzige, klare Grenze.“
Die Beobachtungen zeigen ein ungleichmäßiges Gefüge, wo sich bei einer gegebenen Entfernung zur Sonne etwas Plasma schnell genug bewegt, um das rückläufige Bestreben zu stoppen, während benachbarte Ströme nicht schnell genug sind. Die Ströme sind nah und fein genug, um die natürliche Grenze der Alfvén-Fläche durcheinanderzubringen und eine breite, teilweise abgelöste Region zwischen der Korona und dem Sonnenwind zu bilden.
Ein Rätsel bei zehn Sonnenradien
Aber der nahe Blick auf die koronale Struktur hat auch neue Fragen aufgeworfen. Die zur Abschätzung der Sonnenwindgeschwindigkeit genutzte Technik ergab die Höhen (oder die Entfernungen zur Sonnenoberfläche), wo sich die Dinge rasch veränderten. Und hier bemerkte das Team etwas Kurioses.
„Wir stellten fest, dass es ein Korrelationsminimum bei etwa zehn Sonnenradien gibt“, sagte DeForest. Bei einer Distanz von zehn Sonnenradien stimmten sogar direkt aufeinanderfolgende Bilder nicht mehr gut überein. Aber in größeren Distanzen wurden sie sich wieder ähnlicher. Das bedeutet, es geht nicht nur um die zunehmende Entfernung von der Sonne. Es ist so, als würden sich die Dinge plötzlich ändern, wenn sie erst einmal die Entfernung von zehn Sonnenradien erreicht haben.
„Die Tatsache, dass die Korrelation bei zehn Sonnenradien schwächer ist, bedeutet, dass in der Distanz interessante physikalische Prozesse ablaufen“, sagte DeForest. „Wir wissen noch nicht, was es ist, aber wir wissen, dass es interessant wird.“
Wohin wir gehen
Die Ergebnisse schaffen Fortschritte in einer lange geführten Debatte über die Ursache der Komplexität des Sonnenwinds. Obwohl die STEREO-Beobachtungen die Frage nicht beantworten, zeigt die Methodik des Teams ein fehlendes Bindeglied in der Verkettung von der Sonne zum Sonnenwind.
„Wir sehen all diese Variabilität im Sonnenwind kurz bevor er auf die Magnetosphäre der Erde trifft, und eines unserer Ziele war die Frage, ob die Variabilität möglicherweise an der Sonne entsteht. Es stellte sich heraus, dass die Antwort ‚Ja‘ lautet“, sagte Viall.
„Das erlaubt uns erstmals, die Konnektivität in der Korona genau zu untersuchen und herauszufinden, wie verdreht das Magnetfeld in der Korona im Vergleich zum Sonnenwind wird“, ergänzte DeForest.
Diese ersten Beobachtungen liefern auch wichtige Einblicke in das, was die kommende NASA-Raumsonde Parker Solar Probe finden wird, da sie die erste Mission ist, die Messungen innerhalb der äußeren Sonnenkorona vornehmen wird. Die Raumsonde wird in einer Entfernung von 8,86 Sonnenradien direkt durch die Region fliegen, wo interessante Prozesse entdeckt werden könnten.
Die Ergebnisse von DeForest und seinen Kollegen ermöglichen ihnen vorherzusagen, was die Parker Solar Probe in dieser Region beobachten könnte. „Wir sollten starke Dichtefluktuationen, magnetische Fluktuationen und überall Rekonnexionsprozesse und keine klar definierte Alfvén-Fläche erwarten“, sagte er.
Ergänzt durch die Messungen der Parker Solar Probe vor Ort, werden die Langzeitbelichtungen und Rauschunterdrückungsalgorithmen sogar noch wertvoller für unser Wissen über unseren nächstgelegenen Stern.
Die Studie wurde durch Fördermittel des Living With a Star – Targeted Research and Technology Program der NASA unterstützt.
(THK)
Antworten