Eines der charakteristischen Merkmale der modernen Kosmologie ist die Beschreibung dessen, wie Galaxien sich entwickeln: durch einen hierarchischen Prozess, bei dem sie mit anderen Systemen kollidieren und verschmelzen. Nirgendwo im Universum haben wir ein klareres Bild dieses Aufbaus als in unserer eigenen Milchstraßen-Galaxie.
Derzeit wird eine unserer nahen Nachbargalaxien, die Sagittarius-Zwerggalaxie, durch Gezeitenkräfte auseinandergerissen. Eine Zwerggalaxie besitzt weniger als ein Prozent der stellaren Masse einer normalen Spiralgalaxie wie der Milchstraße und oft sogar noch viel weniger. Zwei andere nahe Zwerggalaxien, die Große und die Kleine Magellansche Wolke (mit etwa 1,0 beziehungsweise 0,7 Prozent der stellaren Masse unserer Milchstraßen-Galaxie) bewegen sich auf uns zu. In der Zwischenzeit umkreisen Ströme aus Kugelsternhaufen die Galaxie, was auf die Auswirkungen früherer Verschmelzungen hinweist.
Die Aufzeichnung von noch älteren Verschmelzungen kann aus den Positionen und Bewegungen der Sterne im stellaren Halo der Milchstraßen-Galaxie abgeleitet werden. Der Halo ist die grob kugelförmige Verteilung von Sternen; ihr Durchmesser beträgt etwa 100.000 Lichtjahre und die Sterne sind älter als 10-12 Milliarden Jahre. Die Andromeda-Galaxie, unsere nächste große Nachbargalaxie, liegt etwa zehnmal weiter entfernt als diese Zwerggalaxien. Man geht davon aus, dass sie in rund fünf Milliarden Jahren mit der Milchstraßen-Galaxie verschmelzen wird.
Das Weltraumobservatorium Gaia wurde im Jahr 2013 mit dem Ziel gestartet, eine präzise dreidimensionale Karte der Milchstraße zu erstellen, indem es ein Prozent ihrer rund 100 Milliarden Sterne beobachtet. Ein Astronomen-Team nutzte Gaia-Ergebnisse und einen neuen Survey der Randbereiche unserer Galaxie mit dem 6,5-Meter MMT-Teleskop in Arizona, um die Geschichte der Sterne in der Milchstraßen-Galaxie in nie zuvor gesehenen Details zusammenzusetzen und die Natur der letzten Verschmelzung zu bestimmen. Das Team bestand aus Rohan Naidu, Charlie Conroy, Ana Bonaca, Rainer Weinberger, Nelson Caldwell, Sandro Tacchella, Jiwon Han und Phillip Cargile vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics (CfA) und ihren Kollegen.
Die Hinweise darauf, dass eine einzelne Zwerggalaxie vor etwa 8-10 Milliarden Jahren mit der Milchstraßen-Galaxie verschmolz, waren bereits überzeugend. Die Überreste dieses Objekts sind heute als Gaia-Sausage-Enceladus (GSE) bekannt und wurden aufgrund von stellaren Bewegungen und Zusammensetzungen der Sterne im inneren Halo abgeleitet. Es ist allerdings noch immer unklar, ob GSE frontal mit unserer Galaxie kollidierte, oder ob es die Galaxie stattdessen umkreiste, bevor es langsam mit ihr verschmolz – und (falls es so war) wie der Orbit aussah.
Die Astronomen gingen diese Fragen an, indem sie Gaias gemessenen Halosterne mit einer Reihe numerischer Simulationen und einem Vergleich des Alters und der Zusammensetzungen der Sterne modellierten. Sie zeigten, dass das GSE ungefähr eine halbe Milliarde Sterne enthielt und die Milchstraße nicht umkreiste, sondern sich ihr in einer retrograden Bewegung näherte (das bedeutet entgegen der Rotationsrichtung der Milchstraße). Sie schlussfolgern auch, dass etwa 50 Prozent des aktuellen stellaren Halos der Milchstraße und rund 20 Prozent ihres Dunkle-Materie-Halos daraus hervorgingen.
Die Milchstraßen-Galaxie enthält Sterne, die rund 13 Milliarden Jahre alt sind, wobei sie auch nach der Entstehung der Galaxie eingefangen worden sein könnten. Mit dem Abschluss dieser Studie kann jedoch fast das gesamte Wachstum der Milchstraßen-Galaxie in den letzten zehn Milliarden Jahren berücksichtigt werden.
Abhandlung: „Reconstructing the Last Major Merger of the Milky Way with the H3 Survey“ von Rohan P. Naidu, Charlie Conroy, Ana Bonaca, Dennis Zaritsky, Rainer Weinberger, Yuan-Sen Ting, Nelson Caldwell, Sandro Tacchella, Jiwon Jesse Han, Joshua S. Speagle und Phillip A. Cargile, The Astrophysical Journal 923, 92, 2021.
(THK)
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