In großen Galaxienhaufen mit hunderten oder tausenden Mitgliedern wandeln unzählige Sterne zwischen den Galaxien wie verlorene Seelen und emittieren einen geisterhaften Lichtschein. Diese Sterne sind nicht gravitativ an irgendeine Galaxie des Galaxienhaufens gebunden.
Die quälende Frage für Astronomen lautete: Wie wurden die Sterne anfangs so in dem Galaxienhaufen zerstreut? Zu den konkurrierenden Theorien zählt die Möglichkeit, dass die Sterne aus einer Galaxie des Galaxienhaufens herauskatapultiert wurden. Oder sie wurden nach galaktischen Verschmelzungen fortkatapultiert, oder sie waren früh in den Entwicklungsjahren eines Galaxienhaufens vor vielen Milliarden Jahren präsent.
Eine kürzliche Himmelsdurchmusterung im Infrarotbereich mit dem Weltraumteleskop Hubble suchte nach diesem sogenannten Intracluster-Licht und liefert neue Erkenntnisse zu dem Rätsel. Die neuen Hubble-Beobachtungen sprechen dafür, dass diese Sterne seit Milliarden Jahren herumwandern und dass sie kein Ergebnis neuerer dynamischer Aktivität innerhalb eines Galaxienhaufens sind, die sie aus normalen Galaxien herausreißen würde.
Die Himmelsdurchmusterung umfasste zehn Galaxienhaufen in Entfernungen bis zu knapp zehn Milliarden Lichtjahren. Diese Messungen mussten aus dem Weltraum erfolgen, weil das schwache Intracluster-Licht circa 10.000 Mal schwächer ist als der Nachthimmel vom Boden aus betrachtet.
Die Himmelsdurchmusterung offenbart, dass der Anteil des Intracluster-Lichts relativ zur Gesamtmenge des Lichts in dem Galaxienhaufens konstant bleibt und damit Milliarden Jahre zurück in die Zeit reicht. „Das bedeutet, dass diese Sterne bereits in den frühen Stadien der Entwicklung der Galaxienhaufen heimatlos waren“, sagte James Jee von der Yonsei University in Seoul (Südkorea). Seine Ergebnisse werden am 5. Januar 2023 im Journal Nature veröffentlicht.
Sterne können außerhalb ihres galaktischen Geburtsortes verstreut werden, wenn sich eine Galaxie durch gasförmige Materie im Raum zwischen den Galaxien bewegt, während sie das Zentrum des Galaxienhaufens umkreist. Bei dem Prozess drückt der Widerstand Gas und Staub aus der Galaxie heraus. Basierend auf dem neuen Hubble-Survey schließt Jee diesen Mechanismus als Hauptursache für die Produktion der Intracluster-Sterne jedoch aus. Der Anteil des Intracluster-Lichts würde im Laufe der Zeit bis zur Gegenwart ansteigen, wenn dies die Hauptursache wäre. Aber das ist in den neuen Hubble-Daten nicht der Fall – sie zeigen einen konstanten Anteil im Zeitraum von Milliarden Jahren.
„Wir wissen nicht genau, wodurch sie heimatlos werden. Aktuelle Theorien können unsere Ergebnisse nicht erklären, aber irgendwie wurden sie im jungen Universum in großen Mengen produziert“, sagte Jee. „In ihren frühen Entwicklungsjahren könnten Galaxien recht klein gewesen sein und Sterne aufgrund einer schwächeren Gravitationskraft leichter verloren haben.“
„Wenn wir den Ursprung der Intracluster-Sterne herausfinden, wird es uns helfen, die Geschichte eines ganzen Galaxienhaufens zu verstehen, und sie können als sichtbare Marker von Dunkler Materie dienen, die diese Galaxienhaufen umhüllt“, sagte Hyungjin Joo von der Yonsei University, der Erstautor der Studie. Dunkle Materie ist der unsichtbare Rahmen des Universums, der Galaxien und Galaxienhaufen zusammenhält.
Falls die wandelnden Sterne aus einem relativ jungen Flipperspiel zwischen den Galaxien hervorgingen, haben sie nicht genug Zeit, um sich durch das gesamte Gravitationsfeld des Galaxienhaufens zu zerstreuen und würden dadurch nicht die Verteilung der Dunklen Materie innerhalb des Galaxienhaufens anzeigen. Aber falls die Sterne in den jungen Jahren des Galaxienhaufens entstanden, hätten sie sich komplett in dem Galaxienhaufen zerstreut. Das würde Astronomen erlauben, die heimatlosen Sterne für die Kartierung der Dunkle-Materie-Verteilung innerhalb des Galaxienhaufens zu verwenden.
Diese Technik ist neu und ergänzt die traditionelle Methode der Kartierung von Dunkler Materie anhand Messungen der Art und Weise, wie der gesamte Galaxienhaufens das Licht von Hintergrundobjekten verzerrt – ein Phänomen, das als Gravitationslinseneffekt bezeichnet wird.
Intracluster-Licht wurde erstmals 1951 von Fritz Zwicky im Coma-Galaxienhaufen entdeckt, der berichtete, dass eine seiner interessantesten Entdeckungen die Beobachtung von heller, diffuser intergalaktischer Materie in dem Galaxienhaufen war. Weil der Coma-Galaxienhaufen mindestens 1.000 Galaxien umfasst und mit 330 Millionen Lichtjahren einer der erdnächsten Galaxienhaufen ist, konnte Zwicky das geisterhafte Licht sogar mit eienem 18-Zoll-Teleskop sehen.
Die Fähigkeiten des James Webb Space Telescope im Nahinfrarotbereich und dessen Empfindlichkeit werden die Suche nach Intracluster-Sternen tiefer in das Universum ausweiten und damit bei der Lösung des Rätsels helfen.
Das Weltraumteleskop Hubble ist ein Projekt internationaler Zusammenarbeit zwischen der NASA und der ESA. Das Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt (Maryland) betreibt das Teleskop. Das Space Telescope Science Institute (STScI) in Baltimore (Maryland) führt die wissenschaftlichen Operationen von Hubble und Webb durch. Das STScI wird von der Association of Universities for Research in Astronomy in Washington, D.C. für die NASA geleitet.
(THK)
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