Wissenschaftler zeigen, dass Erinnerungen in spezifischen Gehirnzellen liegen

Bild eines transgenen Hippocampus einer Maus. (Nikon Small World Gallery)
Bild eines transgenen Hippocampus einer Maus. (Nikon Small World Gallery)

Die einfache Aktivierung einer kleinen Anzahl von Neuronen kann eine komplette Erinnerung wachrufen.

Unsere liebsten oder furchtbarsten Erinnerungen – der erste Kuss oder ein nächtlicher Albtraum – hinterlassen Erinnerungsspuren von Dingen aus der Vergangenheit, komplett mit Datum, Ort und allen Empfindungen dieser Erfahrung, die wir uns wieder in Erinnerung rufen können. Neuro-wissenschaftler nennen diese Spuren Engramme.

Doch sind diese Engramme konzeptionell (nur auf Gedankenbasis; Anm. d. Red.) oder gibt es ein physikalisches Neuronennetzwerk im Gehirn? In einer neuen Studie des MIT verwendeten Wissenschaftler die Optogenetik, um aufzuzeigen, dass Erinnerungen tatsächlich in ganz spezifischen Gehirnzellen liegen – und konnten damit auch erklären, wie zum Beispiel Marcel Proust seine komplette Kindheit wiedergeben konnte, nachdem er nur den Duft seines damaligen Lieblingskekses (eines Madeleine-Cookies) gerochen hatte.

„Wir konnten zeigen, dass Verhalten auf Basis einer High-Level-Kognition, etwa der Ausdruck einer bestimmten Erinnerung, bei einem Säugetier durch hochspezifische physikalische Aktivierung eines ganz bestimmten kleinen Teils von Gehirnzellen hervorgerufen werden kann, in diesem Fall durch Licht“, sagt Susumu Tonegawa, Professor für Biologie und Neurowissenschaft am Picower-Institute des MIT und leitender Autor der Studie, die am 22. März 2012 online im Journal Nature veröffentlicht wurde. „Das ist der streng wissenschaftliche Test des 21. Jahrhunderts zu einer zufälligen Beobachtung des kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield in den frühen 1900er Jahren, die vermuten ließ, dass Verstand auf Materie basiert.“

Bei dieser berühmten Operationsmethode behandelte Penfield Epilepsiepatienten, indem er die Teile des Gehirns entfernte, in denen die Krampfanfälle entstanden. Um sicherzugehen, dass er nur die problematischen Neuronen zerstört, stimulierte Penfield das Gehirn mit kleinen Elektroschocks, während die Patienten, die nur eine Lokalanästhesie hatten, berichteten, was sie dabei empfanden. Bemerkenswerterweise konnten sich einige lebhaft an komplexe Geschehnisse erinnern, wenn Penfield nur einige wenige Neuronen im Hippocampus stimulierte, einer Region, die man heute für essentiell für die Bildung und den Abruf episodenhafter Erinnerungen hält.

Wissenschaftler haben das Phänomen immer wieder untersucht, doch bis jetzt konnte niemals bewiesen werden, dass eine direkte Reaktivierung des Hippocampus ausreicht, um eine Erinnerung wieder hervorzurufen.

Ein Licht auf die Sache werfen

Um einen schnellen Überblick zu geben: vor etwa sieben Jahren wurde die Optogenetik entwickelt, bei der genetisch veränderte Neuronen stimuliert werden, so dass sie lichtaktivierte Proteine bilden. „Wir dachten, wir könnten diese neue Methode dazu verwenden, um die Hypothese über Erinnerungsverschlüsselung und -speicherung in einem Nachahmungsexperiment direkt zu testen“, so Co-Autor Xu Liu, Postdoktorand in Tonegawas Labor.

„Wir wollten eine Erinnerung künstlich hervorrufen, ohne die normalerweise notwendige sensorische Erfahrung, um den experimentellen Nachweis zu erbringen, dass selbst alltägliche Phänomene, wie etwa persönliche Erinnerungen, physikalisch im Mechanismus es Gehirns abgelegt sind“, fügt Co-Autor Steve Ramirez hinzu, ein Doktorand aus Tonegawas Labor.

Die Forscher identifizierten zunächst eine spezifische Gruppe von Gehirnzellen im Hippocampus, die dann aktiv waren, wenn eine Maus etwas über eine neue Umgebung lernte. Sie bestimmten, welche Gene in diesen Zellen aktiviert wurden und koppelten diese mit dem Gen für Channelrhodopsins (ChR2) , einem lichtaktivierten Protein, das bei der Optogenetik verwendet wird.

Dann untersuchten sie Mäuse mit diesem genetischen Paar in den Zellen des Gyrus dentatus im Hippocampus, indem sie winzige optische Fasern verwendeten, um Lichtstöße direkt an die Neuronen zu leiten. Das lichtaktivierte Protein würde nur in den Neuronen ausgebildet werden, die an dem experimentellen Lernvorgang beteiligt waren – ein genialer Weg, um das physikalische Netzwerk der Neuronen markieren zu können, die mit einem spezifischen Erinnerungsengramm für eine bestimmte Erfahrung verbunden sind.

Schließlich wurden die Mäuse in eine Umgebung gesetzt und nach einigen Minuten Erforschung bekamen sie einen schwachen elektrischen Schlag an den Füßen, wodurch sie lernten, diese spezielle Umgebung zu fürchten, in der sie den Schock bekamen. Die Gehirnzellen, die während dieser Angstkonditionierung aktiviert wurden, wurden so mit ChR2 markiert. Später, als sie den Trigger-Reizen des Lichtes in einer völlig anderen Umgebung ausgesetzt wurden, schalteten sich die Neuronen, die in diese Angst-Erinnerung verwickelt waren, an – und die Maus verfiel schnell in eine defensive, unbewegliche, geduckte Haltung.

Falsche Erinnerung

Dieses lichtinduzierte Erstarren legte nahe, dass die Tiere sich wirklich an das Schockerlebnis erinnerten. Die Mäuse nahmen offenbar wirklich die Wiederholung einer Furcht auslösenden Erinnerung wahr – doch diese Erinnerung wurde künstlich hervorgerufen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Erinnerungen tatsächlich in ganz spezifischen Gehirnzellen gespeichert werden“, sagte Liu, „und dass durch eine einfache Reaktivierung dieser Zellen durch physikalische Reize, wie zum Beispiel Licht, eine komplette Erinnerung abgerufen werden kann.“

In Anlehnung an den französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, der da schrieb „Ich denke, also bin ich“ sagt Tonegawa: „René Descartes glaubte nicht, dass man den Verstand naturwissenschaftlich erforschen könnte. Er irrte sich. Diese experimentelle Methode ist der ultimative Weg, um zu zeigen, dass der Verstand, wie auch das Abrufen von Erinnerungen, auf Veränderungen der Materie basieren.“

„Diese bemerkenswerte Arbeit zeigt die Macht, die durch Kombination der neuesten Techniken entsteht, um eine der zentralen Fragen der Neurobiologie zu klären“, sagt Charles Stevens, Professor am Molecular Neurobiology Laboratory des Salk Institute, der nicht an der Studie beteiligt war. „Der Beweis, dass die Reaktivierung dieser Nervenzellen, die während eines Lernprozesses aktiv waren, das erlernte Verhalten reproduzieren kann, ist sicherlich ein Meilenstein.“

Diese Methode könnte möglicherweise auch bei der Untersuchung von neurodegenerativen und neuropsychologischen Krankheiten Anwendung finden. „Je mehr wir über die beweglichen Teile wissen, aus denen unser Gehirn besteht“, so Ramirez, „desto besser sind wir dafür gewappnet, herauszufinden, was passiert, wenn Teile des Gehirns zusammenbrechen.“

Ebenfalls an der Studie beteiligt waren Karl Deisseroth von der Stanford University, dessen Labor die Optogenetik entwickelt hat, sowie Petti T. Pang, Corey B. Puryear und Arvind Govindarajan vom RIKEN-MIT Center for Neural Circuit Genetics am Picower Institute for Learning and Memory des MIT. Diese Arbeit wurde von den National Institutes of Health und dem RIKEN Brain Science Institute finanziert.

Quelle: http://web.mit.edu/newsoffice/2012/conjuring-memories-artificially-0322.html

(SOM)

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