Eine neue Karte der Asteroiden in unserem Sonnensystem zeigt eine größere Vielfalt als bislang angenommen. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie das frühe Sonnensystem entstanden sein könnte, schauen sich Wissenschaftlicher oft Asteroiden an. Diese Relikte aus Gestein und Staub repräsentieren möglicherweise den Zustand heutiger Planeten, bevor sie sich in Himmelskörper mit Kern, Mantel und Kruste ausdifferenzierten.
In den 1980er Jahren war die Ansicht der Wissenschaftler über die Asteroiden des Sonnensystems im Grunde genommen statisch: Asteroiden, die in Sonnennähe entstanden, blieben in der Nähe der Sonne; diejenigen, die sich weiter draußen bildeten, blieben in den Außenbereichen. Aber in dem vergangenen Jahrzehnt haben Astronomen Asteroiden mit Zusammensetzungen entdeckt, die für ihre Positionen im All unerwartet waren: Diejenigen, die in wärmeren Umgebungen entstanden zu sein schienen, wurden weiter draußen im Sonnensystem entdeckt und umgekehrt. Wissenschaftler betrachten diese Objekte als anormale „abtrünnige“ Asteroiden.
Aber jetzt erfasst eine neue Karte – entwickelt von Forschern des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und des Paris Observatory – die Größen, Zusammensetzungen und Positionen von mehr als 100.000 Asteroiden im gesamten Sonnensystem. Sie zeigt, dass abtrünnige Asteroiden in Wirklichkeit viel häufiger vorkommen als bislang gedacht. Besonders im Hauptasteroidengürtel des Sonnensystems zwischen Mars und Jupiter fanden die Forscher eine vielfältige Mischung aus Asteroiden, was ihre Zusammensetzungen betrifft.
Die neue Asteroidenkarte spricht dafür, dass das frühe Sonnensystem dramatische Veränderungen erfahren hat, bevor die Planeten ihre heutige Reihenfolge einnahmen. Beispielsweise könnte Jupiter sich der Sonne angenähert und eine Reihe Asteroiden mit sich gezogen haben, die ursprünglich in den kälteren Randgebieten des Sonnensystems entstanden, bevor er zurück in seine heutige Position wanderte. Die Migration Jupiters hat möglicherweise zeitgleich weitere nahe Asteroiden fortgeschleudert und sie in alle Richtungen nach außen fliegen lassen.
„Es ist so, als hätte Jupiter einen Strike durch den Asteroidengürtel geworfen“, sagte Francesca DeMeo, die einen Großteil der Kartierung als Postdoktorandin am Department of Earth, Atmospheric and Planetary Sciences des MIT durchführte. „Alles, was dort war, bewegt sich. Deswegen hat man dort dieses Sammelbecken von Material aus dem gesamten Sonnensystem.“
DeMeo sagte, die neue Karte werde Theoretikern helfen, Theorien darüber zu erstellen, wie sich das Sonnensystem in seiner Frühzeit entwickelte. Sie und Benoit Carry vom Paris Observatory haben Einzelheiten der Karte im Journal Nature veröffentlicht.
Von einem Rinnsal zu einem Fluss
Um eine umfassende Asteroidenkarte zu erschaffen, analysierten die Forscher zunächst Daten des Sloan Digital Sky Survey, der ein großes Teleskop in New Mexico verwendet, um Spektralbilder von hunderttausenden Galaxien aufzunehmen. Darin eingeschlossen sind Daten von mehr als 100.000 Asteroiden des Sonnensystems. DeMeo gruppierte diese Asteroiden nach Größe, Position und Zusammensetzung. Sie definierte die letzte Kategorie nach den Ursprungsorten der Asteroiden – ob sie in wärmeren oder kälteren Umgebungen liegen. Diese Eigenschaft kann anhand dessen bestimmt werden, ob die Oberfläche eines Asteroiden mehr Licht in rötlichen oder bläulichen Wellenlängen reflektiert.
Das Team musste dann alle Beobachtungsabweichungen berücksichtigen. Obwohl der Survey mehr als 100.000 Asteroiden umfasst, sind dies nur die hellsten Objekte dieser Art am Himmel. Kleinere und weniger reflektive Asteroiden sind schwerer auszumachen. Das bedeutet, dass eine auf Beobachtungen basierende Asteroidenkarte unabsichtlich eine komplette Asteroidenpopulation auslassen könnte.
Um jegliche Einseitigkeiten bei ihrer Kartierung zu vermeiden, stellten die Forscher fest, dass der Survey höchstwahrscheinlich jeden Asteroiden mit einer Mindestgröße von fünf Kilometern erfasst. Mit diesem Größenlimit waren sie in der Lage, ein genaues Bild des Asteroidengürtels zu erstellen. Die Wissenschaftler gruppierten die Asteroiden nach Größe und Zusammensetzung und zeichneten sie in die unterscheidbaren Regionen des Sonnensystems, wo die Asteroiden beobachtet wurden.
Anhand ihrer Karte zeigten sie, dass das traditionelle Muster für größere Asteroiden korrekt bleibt. Je weiter man sich von der Sonne entfernt, desto kälter erscheinen die Asteroiden. Aber für kleine Asteroiden scheint dieses Muster zusammenzubrechen. Diejenigen, die aussehen, als seien sie in wärmeren Umgebungen entstanden, können nicht nur in der Nähe der Sonne, sondern im gesamten Sonnensystem beobachtet werden. Und Asteroiden, die kälteren Himmelskörper jenseits von Jupiter ähneln, können auch im inneren Asteroidengürtel – näher am Mars – gefunden werden.
„Das Rinnsal aus Asteroiden, die an unerwarteten Orten entdeckt wurden, hat sich in einen Fluss verwandelt. Wir sehen jetzt, dass in jeder Region des Hauptgürtels alle Asteroidentypen vorkommen“, schreibt das Team in seiner Abhandlung.
Ein veränderliches Sonnensystem
Die Vielfalt hinsichtlich der Zusammensetzung, die in dieser neuen Asteroidenkarte erkennbar ist, könnte einer Theorie über planetare Migration mehr Gewicht verleihen, die als das Grand Tack Model bekannt ist. Dieses Modell zeichnet eine Szenario, in dem Jupiter während der ersten paar Millionen Jahre in der Frühphase des Sonnensystems sich so nahe an die Sonne bewegte, wie der Mars jetzt ist. Bei seiner Migration könnte sich Jupiter direkt durch den Asteroidengürtel bewegt haben, wobei er die Asteroiden in alle Richtungen verstreute und den Gürtel mit neuen Asteroiden aus dem inneren und äußeren Sonnensystem versorgte, bevor er wieder zurück an seine heutige Position wanderte. Dieses Bild unterscheidet sich stark von der traditionellen, statischen Ansicht eines Sonnensystems, das sich bildete und dann in den vergangenen 4,5 Milliarden Jahren praktisch unverändert blieb.
„Diese Theorie wurde vollkommen auf den Kopf gestellt“, sagte DeMeo. „Heute denken wir das genaue Gegenteil: Alles wurde ordentlich hin- und herbewegt und das Sonnensystem ist sehr dynamisch.“
Clark Chapman, ein Seniorwissenschaftler vom Southwest Research Institute in Boulder (Colorado), sagte, die neue Karte sei ein willkommenes Update für die Asteroidenkarten, die er und seine Kollegen in den 1980er Jahren entwickelt hatten und die nur die Asteroiden mit Durchmessern von 20 Kilometern oder mehr einschlossen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten, so sagte er, hätten Forscher große Fortschritte beim Verständnis der Dynamiken und der Entwicklungsgeschichte von Asteroiden gemacht, die DeMeo und Carry jetzt in einen Zusammenhang gebracht haben.
„Sie haben zumindest versucht, qualitativ zu beschreiben, wie die unerwarteten Beziehungen zwischen Asteroidengröße, Entfernung von der Sonne und Zusammensetzung in die gängigen dynamischen Modelle und zu anderen Erkenntnissen aus den letzten zwei Jahrzehnten passen“, sagte Chapman. „Ich bin sehr froh, dass diese Grundlagenforschung durchgeführt wurde, und ich denke, es ist ein höchst willkommener Beitrag, um das Sonnensystem zu verstehen.“
DeMeo ergänzte, dass das frühe „Flippern“ der Asteroiden im Sonnensystem auf der Erde wortwörtlich einen großen Eindruck hinterließ. Beispielsweise enthielten Asteroiden, die sich weiter draußen im Sonnensystem bildeten, wahrscheinlich Eis. Als sie aufgrund von planetaren Migrationen der Erde näher kamen, könnten sie mit ihr kollidiert sein und Eisrückstände hinterlassen haben, die letztendlich zu Wasser schmolzen.
„Die Geschichte, die uns der Asteroidengürtel erzählt, bezieht sich auch darauf, wie sich Wasser auf der Erde ansammelte und wie die Erde bis heute in dieser habitablen Zone blieb“, sagte DeMeo.
Quelle: http://web.mit.edu/newsoffice/2014/rogue-asteroids-may-be-the-norm-0129.html
(THK)
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